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Zu jung zum sterben!

Dieses Thema im Forum 'Menschliches und Familie' wurde von Gast gestartet, 21 März 2009.

  1. Sie war zwölf, sie war noch zu jung zum Sterben.
    Das sagten ihr alle.
    Und trotzdem würde sie sterben, und sie fragte sich, warum.
    Wenn es ein Alter fürs Sterben gab, warum hatte sie dann Leukämie?
    Hatte man sich bei ihr verrechnet? Hatte irgendjemand ihr Alter falsch aufgeschrieben?
    Sie wusste es nicht, und sie traute sich auch nicht, danach zu fragen.

    Sie würde sterben, und zwar schon bald.
    Ihre Mutter sagte ihr immer, dann würde sie an einen schönen Ort kommen.
    Aber jedes Mal, wenn sie nachfragte, wohin denn, dann schwieg ihre Mutter. Ihre Mutter war dumm; sie wusste nicht, wohin.
    Und trotzdem sagte sie es immer wieder.

    Sie fragte sich, wie dieser bessere Ort wohl aussehen würde.
    Sie wünschte sich so sehr, dass sie, wenn sie tot war, durch alle Zeiten wandern würde.

    Dass sie als Staubkorn geboren werden würde, um Teil des Urknalls zu sein.
    Dass sie als kleine Larve am Baum hängen würde und echte Dinosaurier sehen könnte. Nicht nur solche, die man im Museum sehen konnte.
    Dass sie ein Baby wäre in der Steinzeit, auf den Rücken einer Frau gebunden, die Beeren sammelte.
    Dass sie als kleines Mädchen auf dem Marktplatz von Athen herumrennen würde und ehrerbietig zum Tempel auf der Akropolis hochschaute. Sie war einmal mit ihrer Mutter in Athen gewesen, aber da war vom Tempel nicht mehr viel übriggewesen.
    Dass sie eine junge und wunderschöne Prinzessin wäre, die mit einem Prinzen verheiratet wurde, der ihr die schönsten Kleider schenkte.
    Dass sie nach Amerika auswandern würde, in eine bessere Welt, mit einem Mann und einem Kind und dort Wunder erleben würde. Die Häuser, die bis in den Himmel ragten, sehen würde, von der ihre Mutter ihr mal ein Bild gezeigt hatte.
    Dass sie sein würde wie ihre Mutter, eine tapfere Frau mit zwei Kindern und ohne einen Mann, und sich alleine durchbeißen würde. Dann könnte sie allen zeigen, wie stark sie war.
    Dass sie sein würde wie ihre Großmutter, gemütlich und liebevoll, und dass sie sich nicht zurechtfinden würde in einer Welt, die noch ganz anders war, als sie jung gewesen war. In der immer neue Technik die Welt eroberte und man versuchte, bei all den Maschinen noch Mensch zu bleiben.

    Das wünschte sie sich, und sie wünschte es sich so sehr, dass sie sich fast schon selbst sah, wie sie in schönen Kleidern durch einen Palast tanzte oder in einem Schaukelstuhl saß und Tee trank.
    Dann hätte sie alles erlebt, was sie sich gewünscht hatte.
    Dann hätte sie ein Leben gehabt.
    Und dann hätte sie sterben können.

    Als alte Frau in einem Schaukelstuhl, in einer Welt, die immer weiter wollte, immer mehr Technik, immer schneller, immer mehr in die Natur eingreifen, damit man viereckige Melonen essen konnte, die ja so viel praktischer waren.

    Sie war nicht dumm.
    Sie wusste, dass Wünsche nicht in Erfüllung gingen.
    Sie hatte sich gewünscht, dass ihre Mutter aufhörte, immer zu weinen und traurig zu sein.
    Sie hatte sich gewünscht, dass ihr Vater noch leben würde.
    Sie hatte sich gewünscht, dass noch mal jemand auf die Liste schaute und bemerkte, dass da ein Fehler war. Dass sie zu jung zum Sterben war und wieder gesund werden würde.

    Aber niemand hatte sich auch nur einen ihrer Wünsche angehört.
    Und sie hatte schon längst aufgehört zu glauben, dass sie an einen schönen Ort kommen würde.


    Sie schloss die Augen und biss sich auf die Lippen, weil die Schmerzen immer schlimmer wurden, aber die Ärzte hatten aufgehört, ihre Schmerzmitteldosis zu erhöhen.
    Ihre Mutter stand am Bett und weinte und drückte ihre Hand.
    Sie war zu jung zum Sterben.
    Aber sie würde nicht an einen schönen Ort kommen.
    Sie würde nur ein Fehler auf der Liste sein, ein peinlicher, kleiner Fehler, der nun mal passiert war.

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